autismus verstehen

Rund um den Autismus kreisen viele Begriffe, Vorstellungen, Bilder und auch Mythen. Was aber genau ist eigentlich Autismus?

Die Antwort fällt unterschiedlich aus, je nach dem, wen man fragt. Aus medizinischer Sicht ist Autismus eine neurologische Entwicklungsstörung. Die Autismus-Spektrum-Störung. Fragt man Autisten, dann fühlen sich diese aber nicht unbedingt gestört. Die Autistin und Autorin Maria Zimmermann1 beschreibt Autismus als

Ein anderes Wahrnehmen und Begreifen und Kommunizieren mit der Welt.

In diesem Beitrag wollen wir aufzeigen wie die Autismus-Spektrum-Störung aus klinischer Sicht aktuell definiert und eingegrenzt wird. Darüber hinaus möchten wir Autismus begreifbar machen und Verständnis schaffen.

Autismus kann eine Störung sein, muss es aber nicht.

In diesen Beitrag fliessen deshalb nicht nur Diagnosekriterien und medizinische Umschreibungen, sondern auch Beiträge aus dem Erleben von autistischen Personen und von Fachpersonen, die sich intensiv mit Menschen aus dem Autismus Spektrum beschäftigen und die erkannt haben, dass autistische Menschen nicht gestört sind, sondern nur ein bisschen anders.

Was ist das Autismus Spektrum?

Das Autismus-Spektrum umfasst eine Bandbreite neurologischer Variationen, die durch unterschiedliche Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen geprägt sind. Der Begriff „Spektrum“ wird verwendet, weil autistische Merkmale in verschiedenen Kombinationen und Intensitäten auftreten können. Dies bedeutet, dass jede autistische Person einzigartig ist und ihre Merkmale individuell ausgeprägt sind.

Die moderne Sicht auf Autismus betrachtet ihn als Teil der natürlichen Vielfalt des menschlichen Gehirns und nicht primär als Störung. Auf dieser Grundlage wird Autismus als eine wertneutrale neurologische Variation verstanden, die spezifische Stärken und Herausforderungen mit sich bringt.

Autismus-Spektrums-Störung

Die Autismus-Spektrum-Störung, kurz ASS, ist die offizielle Diagnose für Menschen im Autismus-Spektrum, wenn ihre Merkmale zu einer Beeinträchtigung im Alltag führen. Der Begriff „Störung“ wurde aus diagnostischen Gründen eingeführt, um bestimmte Merkmale zu erfassen und betroffenen Menschen Unterstützung zu ermöglichen. Unter diesem Diagnosebegriff werden heute verschiedene frühere Subtypen, wie das Asperger-Syndrom und der frühkindliche Autismus, zusammengefasst. Diese Integration soll die grosse Bandbreite und Vielfalt der autistischen Merkmale besser abbilden.

Wie zeigt sich Autismus?

Was sind die Symptome oder positiver ausgedrückt, die Merkmale von Autismus? Die andere Wahrnehmungs- und Denkweise führt zu unterschiedlichen Eigenschaften, die Menschen im Autismus Spektrum mehr oder weniger aufweisen können und die sich ganz unterschiedlich zeigen können. Die meisten dieser Eigenschaften können eine Stärke sein oder für Herausforderungen sorgen, je nach dem in welchem Umfeld sie erscheinen, wie stark sie ausgeprägt sind und wie gut sie sich mit aktuellen Anforderungen vereinbaren lassen.

Kommunikation

Menschen im Autismus Spektrum haben grundsätzlich eine andere Vorstellung davon, welches Ziel Kommunikation haben soll. Häufig kommunizieren autistische Personen hauptsächlich, um Informationen auszutauschen oder etwas zu erfahren und nicht um soziale Beziehungen zu fördern. Smalltalk, Höflichkeitsfloskeln oder schonend verpackte Kritik werden deshalb oft als sinnlos empfunden oder gar nicht verstanden. Auch Ironie, Sarkasmus, Sprichwörter oder Metaphern werden teilweise nicht verstanden, weil Sprache eher wörtlich begriffen wird.

Wird ein Gespräch als uninteressant empfunden, wird z.B. einfach das Thema gewechselt. Über eigene Interessen kann ewig gesprochen werden, so dass oft eher ein Monolog anstatt eines Dialoges entsteht. Autistische Menschen haben auch oft den Drang in Gesprächen, Fakten richtigzustellen. Einige Menschen im Autismus Spektrum fühlen sich von ständigem Blickkontakt überreizt oder er lenkt sie ab. Sie schauen deshalb in Gesprächen häufiger weg oder meiden den Blickkontakt komplett.

Interessant ist, dass Menschen im autistischen Spektrum häufig eine untypische Sprachentwicklung haben. Entweder beginnen sie besonders früh zu sprechen oder die Sprache ist verzögert oder bleibt sogar ganz aus.

Ich mag es nicht mit Leuten Smalltalk zu machen oder Kontakte zu knüpfen.2

Greta Thunberg spricht vor Menschen in ein Mikrofon

Greta Thunberg, die bekennende Autistin spricht ohne Probleme vor Menschen über ihr Thema. Belangloses wie Smalltalk interessiert sie jedoch nicht.

Menschen im Autismus Spektrum kommunizieren oft direkt, ehrlich und ohne Hintergedanken. Man kann sie beim Wort nehmen.

Herausforderungen: Aufgrund dieser Kommunikation entstehen oft Missverständnisse und Menschen im Autismus Spektrum werden fälschlicherweise als stur, besserwisserisch, egoistisch, taktlos oder verletzend gehalten.

Soziale Interaktionen

Für Menschen im Autismus Spektrum sind soziale Situationen oft mit Schwierigkeiten verbunden, weil hier ihre andere Art zu denken und zu sprechen besonders auffallen und die Interaktionen Spontanität und Flexibilität erfordern. Soziale Regeln werden nicht intuitiv erlernt und angewendet, sie werden nicht als logisch empfunden und muss auswendig gelernt werden. Menschen im Autismus Spektrum haben oft auch Mühe, die Absichten oder die Gefühle einer Person an ihrer Mimik und Körpersprache zu erkennen. Auch die sensorische Empfindlichkeit kann Situationen mit mehreren Menschen anstrengend machen.

Ich freue mich über Zeit mit anderen Menschen, aber ich geniesse es, wenn ich wieder allein bin und mich erholen kann.3

Menschen im Autismus Spektrum erkennen ungeschriebene soziale Regeln oder Erwartungen viel weniger. Ihnen fallen daher soziale Ungerechtigkeiten z.B. zwischen Mann und Frau mehr auf.

Sie hinterfragen oft soziale oder gesellschaftliche Gepflogenheiten und nehmen solche viel weniger einfach als gegeben hin.

Herausforderungen: Viele autistische Menschen sind gerne mit anderen zusammen, die vielen Missverständnisse oder das Anecken mit der eigenen Art führen jedoch oft dazu, dass Menschen im Autismus Spektrum soziale Situationen eher meiden. Es kommt auch vor, dass es ihnen gar nicht gelingt, Anschluss an Gruppen zu finden oder Freundschaften zu schliessen, was zu Einsamkeit führt.

Junger Mann ist abseits einer Gruppe im Park.

Menschen im Autismus Spektrum können Schwierigkeiten haben, sich in Gruppen einzufügen oder soziale Interkationen einzugehen. Dies kann zu Isolation oder Einsamkeit führen.

Interessen

Viele autistische Menschen können sich für bestimmte Dinge und Themen besonders begeistern und saugen Wissen darüber nur so auf. Menschen im Autismus Spektrum haben deshalb oft ausgeprägte Fähigkeiten, sich autodidaktisch vertieftes Fachwissen anzueignen.

Die Beschäftigung mit ihren Interessen und das Teilen des Wissens erfüllt sie und gibt ihnen die Möglichkeit, wieder aufzutanken.

Oft wird in diesem Zusammenhang noch immer von «Spezialinteressen» gesprochen, da man davon ausging, dass solche Interessen immer ein bisschen «speziell» sind und sich von den Interessen anderer unterscheiden, wie bspw. Zugfahrpläne oder programmieren. Solche Interessen können aber recht vielfältig und gesellschaftstauglich sein und beschränken sich nicht unbedingt auf ein Thema. Zum Beispiel Hunde, Harry Potter, Minecraft, Psychologie oder auch Nähen oder Fotografieren. Was sich unterscheidet ist nicht unbedingt das Thema, sondern die Intensität, mit dem dem Interesse nachgegangen wird.

Eines meiner Symptome war meine Besessenheit von Geistern und Strafverfolgung.4

Portrait des Schauspielers Dan Akroyd

Der Schauspieler Dan Aykroyd hat nach eigenen Angaben ein diagnostiziertes Asperger-Syndrom. Sein grösster Hit, der Film Ghostbuster, verdanke er dem Asperger.4

Menschen im Autismus Spektrum haben in ihren Interessensgebieten oft tiefes Wissen. Sie sind häufig Experten auf ihrem Gebiet. Egal ob in der Wissenschaft oder in kreativen oder musischen Bereichen.

Herausforderungen: Je nach dem haben autistische Menschen das Bedürfnis nur noch über ihre Interessen zu sprechen und merken dabei nicht, ob es das Gegenüber noch interessiert. Je weiter weg das Interesse von allgemein üblichen Interessen liegt, desto schwieriger wird es, Menschen zu finden, die Lust haben, sich ebenfalls darüber zu unterhalten. Menschen im Autismus Spektrum können teilweise nicht nachvollziehen, dass andere nicht dieselbe Begeisterung und Faszination dafür aufbringen können, was zu Frustration führt.

Denken

Die Art des Denkens und Lernens unterscheidet sich bei Menschen im autistischen Spektrum von der anderer Menschen. Ihre kognitiven Fähigkeiten sind selten im Durchschnittsbereich, oft zeigen sich überdurchschnittliche Fähigkeiten, besonders dort, wo sie die Möglichkeit hatten, sich diese selbst beizubringen. Ebenfalls häufig sind aber auch Entwicklungsverzögerungen im Bereich Lesen, Schreiben und Rechnen.5

Mit einem autistischen Gehirn funktioniert besonders gut:5

  • Logisches Denken
  • Bemerken von Details und Erkennen von Mustern
  • Kategorisieren und systematisches Einordnen
  • Autodidaktisches Lernen
  • Sich Details, Fakten und Ereignisse merken und auch noch nach Jahren wieder abrufen
  • Visuelles Denken

Oft ist das Denken von Menschen im Autismus Spektrum wenig flexibel. Kommt es unerwartet zu Veränderungen, z.B. im Tagesablauf oder bei Plänen und Vorstellungen, wie etwas abläuft oder funktionieren soll, kann sich das Gehirn nur schwer auf eine Alternative oder die Veränderung einstellen. Man kann sich das Denken dann wie einen Schnellzug auf einem Gleis vorstellen. In der Regel kommt man damit schnell und verlässlich zum Ziel. Verändert sich aber der Fahrplan spontan, ist der Zug zu wenig flexibel, um sich kurzfristig anpassen zu können – das Umdenken fällt schwer.5

Alles, was ich als junger Mensch vom Leben wünschte war, ruhig in einer Ecke zu sitzen und meine Arbeit zu tun, ohne von den Menschen beachtet zu werden. Und jetzt schaut bloss, was aus mir geworden ist.6

Portrait von Sir Alecander Crichton

Albert Einstein ist nur einer von vielen, die zeigen, dass eine andere Art zu denken zu verblüffenden Ergebnissen führen kann. Der Autismus Verdacht bei Albert Einstein liegt für Fachpersonen klar auf der Hand.6 Autismus war jedoch zu seiner Lebenszeit noch nicht bekannt.

Viele bedeutende Fortschritte in der Wissenschaft, Philosophie und in der Kunst kommen von Menschen, deren Denken anders ist. Menschen im Autismus Spektrum bringen oft eine völlig neue Perspektive auf Probleme und Lösungen. Ihr Potenzial steckt meist genau da, wo andere Menschen mit ihrem Denken nicht hinkommen.

Herausforderungen: Durch die Inflexibilität des Denkens, können Menschen im Autismus Spektrum grosse Probleme mit Unvorhergesehenem und Planänderungen haben. Sie fühlen sich dann am wohlsten, wenn sie genau wissen, was wann geschieht oder wenn alles immer gleich abläuft. Routinen werden nur ungern unterbrochen. Das hat nichts mit Sturheit zu tun, ihr Gehirn funktioniert einfach so. Dies führt auch teilweise dazu, dass aus Fehlern nicht gelernt wird, da sie sich keine alternative Problemlösungsstrategien vorstellen können. Auch Übergänge fallen vielen Menschen im Autismus Spektrum schwer, denn auch diese verlangen eine Anpassung an eine neue Situation und damit ein Umdenken.

Mindestens 75% der Menschen im autistischen Spektrum haben auch Merkmale, die auf eine ADHS hindeuten oder weisen eine Doppeldiagnose auf.5 Dies kann dazu führen, dass sich die Inflexibilität im Denken etwas abschwächt oder anders zeigt, weil Menschen mit ADHS sich von Neuem hingezogen fühlen und Routinen und Strukturen oftmals ablehnen. Neben anderen Stärken der ADHS kommen dann aber auch andere Herausforderungen mit der Aufmerksamkeitslenkung und den exekutiven Funktionen dazu.

Sensorische Empfindlichkeit

Menschen im Autismus Spektrum nehmen Reize oftmals viel stärker war, ihre Empfindungen sind intensiver und sie reagieren deshalb sensibler. Nicht alle autistischen Personen reagieren auf alle Reize gleich intensiv und manchmal zeigt sich sogar eine Unterempfindlichkeit. Bei folgenden Reizen kann eine Über- oder Unterempfindlichkeit bestehen:

  • Geräusche
  • Taktile Reize (Berührungen, Empfindungen auf der Haut)
  • Licht
  • Visuelle Reize
  • Geschmack und Beschaffenheit von Essen
  • Gerüche
  • Temperaturen
  • Körperwahrnehmungen und Schmerzen

Beispiele von sensorischer Überempfindlichkeit

  • Gewisse Kleidung, Nähte oder Stoffe fühlen sich auf der Haut eklig, unangenehm bis unaushaltbar an.
  • Haare kämmen verursacht durch den Kamm auf dem Kopf oder das Ziepen an den Haaren schmerzen.
  • Der Geruch eines Parfums, einer Seife oder eines Gewürzes löst Übelkeit aus.
  • Creme auf der Haut löst Ekelgefühle aus
  • Im Winter ist es zu kalt und im Sommer zu heiss.
  • Der Herzschlag, die Verdauung wird jederzeit bewusst wahrgenommen.
  • Auch kleine Verletzungen lösen grossen Schmerz aus.
  • Gewisse Lebensmittel lösen aufgrund ihres Geruches oder ihrer Beschaffenheit grossen Ekel aus.
  • Bereits sehr leise Geräusche werden wahrgenommen und ein bestimmter Geräuschpegel löst Stress aus.
  • Erschrecken bei lauten Geräuschen, wobei diese Schmerzen auslösen können.
  • Das sanfte Streicheln auf der immer selben Stelle löst Schmerzen aus.
  • Grosse Unordnung, schnell wechselnde Bilder oder wilde und knallige Farbenmuster lösen Stress aus.
Kleines Kind schaut einem vorbeifahrenden Zug zu und hält sich dabei die Ohren zu.

Werden Geräusche viel intensiver wahrgenommen, können Bahnhöfe zu einer Qual werden.

Beispiele von sensorischer Unterempfindlichkeit

  • Bestimmte Töne werden nicht wahrgenommen
  • Wenig Reaktion oder nicht bemerken von Verletzungen
  • Braucht im Winter keine Jacke

Da Reize intensiv wahrgenommen werden, lösen diese nicht nur Stress aus, sondern auch mehr positive Empfindungen.

Wer auf visuelle Reize anspricht, freut sich über harmonische Farben, symmetrische Formen oder stimmige Arrangements besonders und diese können auch Ruhe und Glücksgefühle auslösen. Bei taktilen Reizen löst das Berühren von angenehmen Stoffen ein Wohlgefühl aus, Essen wird besonders intensiv geschmeckt oder schöne Melodien besonders intensiv erlebt.

Herausforderungen: Eine Überempfindung bedeutet im Alltag, dass der Körper ständig intensive Reize verarbeiten und bewältigen muss. Diese Verarbeitung kostet viel Energie, weshalb Situationen, die viele Reize verursachen, sehr ermüdend und energieraubend sein können. Viele alltägliche Situationen wie bspw. Zugfahren oder Einkaufen kosten Menschen im Autismus Spektrum mehr Kraft. Sie benötigen daher längere Erholungsphasen. Bauen sich viele Reize über einen längeren Zeitraum auf oder kommt Reize sind so stark, dass sie nicht mehr verarbeitet werden können, kommt es zu einer Reizüberflutung.

Eine gerümpfte Nase ist sozusagen mein Standard Gesichtsausdruck. Ich bin eigentlich immer von irgendetwas angeekelt, genervt oder überreizt.7

Motorik

Einige Menschen im autistischen Spektrum weisen Schwierigkeiten in der Motorik auf. Dies kann die Fein-, die Grapho- oder die Grobmotorik betreffen. Dies führt bspw. zu Schwierigkeiten beim Schreiben, Zubinden von Schuhen, Verwendung von Besteck, Radfahren oder bei Ballspielen. Es können auch Auffälligkeiten in der Gangart entstehen, wie z.B. der Zehenspitzengang. Auch die Mimik und Gestik kann dadurch betroffen sein, so dass diese geringer ausfällt.5

Nackte Füsse, die auf Zehenspitzen über einen Holzboden gehen.

Viele Kleinkinder gehen eine gewisse Zeit auf den Zehenspitzen. Bei autistischen Kindern sind es jedoch vier mal mehr, wobei dies Gangart bei einigen bis ins Erwachsenenalter bleibt.8

Sie haben mir immer gesagt, dass ich den Stift verkehrt halte. Bis heute halte ich den Stift nicht richtig, daher habe ich auch eine schlechte Handschrift.5

Einige dieser motorischen Schwierigkeiten können durch einen tiefen Muskeltonus entstehen. Dieser hat den Vorteil, dass er zu grosser Beweglichkeit führt. Es gibt durchaus auch gute Sportler, die im autistischen Spektrum sind.

Herausforderungen: Neben der Schwierigkeit beim Schreiben, zeigt sich oft auch eine gewisse Ungeschicklichkeit im Alltag und beim Sport.

Emotionales Erleben

Auch im emotionalen Erleben zeigt sich die unterschiedliche Wahrnehmung bei Menschen im Autismus Spektrum. Ein häufiger Irrtum ist, dass autistische Menschen weniger Gefühle hätten oder keine Empathie. Tatsächlich entsteht dieser Eindruck jedoch auf Missverständnissen in der nonverbalen Kommunikation. In der aktuellen Autismus Literatur wird das Thema Gefühle oft nur indirekt in Bezug auf Angststörungen, Depressionen oder Wut behandelt. Es zeigt sich, dass das emotionale Erleben sehr komplex ist und es noch nicht viele Hinweise dazu gibt. Im Folgenden habe ich mich deshalb vorwiegend auf Aussagen von Menschen im Autismus Spektrum bezogen.

Gefühle ausdrücken
Matthias Huber, der auf Autismus-Spektrum spezialiserter Kinder- und Jugendpsychologe ist selber im Autismus Spektrum. Er erklärt in einem Interview, dass Menschen im Autismus Spektrum genauso Gefühle haben wie andere, aber dass sie sie oftmals nicht so ausdrücken können, dass sie für andere ersichtlich sind. Dies kann an einer verringerten Gesichtsmimik liegen oder daran, dass die innerliche Gefühlswelt nicht intuitiv nach aussen kommt.9

Portraitaufnahme einer Frau, die keine Mimik zeigt.

Wenig Mimik heisst nicht zwangsläufig keine Gefühle.

Innerlich spürte ich zum Beispiel Freude und habe Luftsprünge gemacht in meinem Kopf. Aber nach aussen wirkte ich ernst, traurig oder neutral.9

Mitfühlen
Entgegen der häufigen Annahme, autistische Menschen könnten nicht mitfühlen, ist oft genau das Gegenteil der Fall. Gefühle von anderen Menschen werden so intensiv selber gefühlt, dass teilweise nicht mehr zwischen fremden und eigenen Gefühlen unterschieden werden kann. Gemäss Matthias Huber können emotional aufgeladene Situationen autistische Menschen völlig überschwemmen und überfordern.9 Nico klärt auf seinem YouTube-Kanal InsideAut über Autismus auf. Er ist selber autistisch und beschreibt dies wie folgt:

Die Gefühle anderer Menschen können für mich so stark sein, dass ich sie unbewusst auf mich übertrage.9

Eigene Gefühle wahrnehmen
Die Wahrnehmung von eigenen Gefühlen ist oft kompliziert. Einerseits kann der Zugang zum eigenen Gefühlsleben eher schwierig sein, gerade was subtilere Abstufungen von Gefühlen betrifft. Sie werden eher als Knäuel oder starke körperliche Empfindung erlebt. Etwas fühlt sich einfach gut an oder schlecht. Auf der anderen Seite sind Gefühle oft übermächtig und machen sich im ganzen Körper breit.

Alles ist zuviel – der Overload
Die Regulation von Gefühlen kann dann schwierig sein, wenn sich die Gefühle besonders übermächtig anfühlen und nur noch wenig oder keine Ressourcen mehr zur Verfügung stehen. Z.B. wenn die autistische Person bereits vielen Reizen ausgesetzt war. Eine plötzliche oder sich aufgebaute Reizüberflutung kann sich dann emotional entladen. «Das autistische Gehirn schaltet in den Katastrophen-Modus um», so Maria Zimmermann1. Die Entladung kann nach aussen gehen, in Form einer Explosion, die sich durch Schreien, Weinen, Dinge kaputt machen oder sogar Schlagen zeigen kann, dies nennt sich Meltdown. Eine andere Bewältigungsform ist der Shutdown, die Implosion. Sie kann sich durch Unbeweglichkeit, Verstummen, Reaktionslosigkeit oder Rückzug ausdrücken.1

Menschen im Autismus Spektrum, die einen Meltdown oder Shutdown erleben, können sich nicht einfach zusammenreissen. An diesem Punkt, wurden die eigenen Bedürfnisse bereits zu lange unterdrückt oder nicht richtig wahrgenommen, so dass es regelrecht zu einem Kurzschluss kommt.

Rationaler Zugang zu Gefühlen
Viele autistische Personen gehen rationaler an Themen ran. Sie lassen die emotionale Ebene eher weg. So bieten sie einer traurigen Freundin in Gesprächen eher praktische Lösungen an als sie auf klassischem Weg zu trösten.9 Ein Forschungsteam hat festgestellt, dass autistische Personen aufgrund dieses rationalen Zugangs bei Entscheidungen und unangenehmen Informationen rationaler urteilen können und sich so weniger zu Fehlschlüssen verleiten lassen.10

In Notfällen kommt mir das zugute, weil ich dann sehr ruhig bleiben kann.1

Gefühle können sehr stark erlebt werden. Nicht nur Wut oder Angst auch Freude oder Liebe.

Der rationale Zugang zu den Gefühlen hilft in einer brenzligen Situationen einen klaren Kopf zu bewahren, lösungsorientiert zu handeln und objektiv zu beurteilen.

Viele Autisten haben wohl auch deshalb einen starken Gerechtigkeitssinn, der nicht durch die eigene Situation geprägt ist. Die Fähigkeit, Gefühle anderer selber zu spüren, kann heraus- bis überfordernd sein. Kann jedoch ein guter Umgang damit erlernt werden, entsteht eine hohe Sensibilität und feine Antennen für Stimmungen.

Ich dachte lange, dass ich mit meinen Gefühlen übertreibe und dass sich sie besser regulieren müsse. Mittlerweile weiss ich, was für eine Bereicherung sie sind.1

Herausforderungen: Da Emotionen anders wahrgenommen und ausgedrückt werden, kommt es auch hier zu Missverständnissen in der sozialen Kommunikation, die Unverständnis, Kritik, Ablehnung oder sogar Ausschluss aus einer Gruppe bedeuten können. Aus Selbstschutz und Unsicherheit meiden manche autistische Personen deshalb emotionale Situationen oder reagieren darauf vermeindlich «emotionslos».

Wie und ob sich diese Merkmale bei unterschiedlichen Personen im Autismus Spektrum im Alltag zeigen, kann sehr unterschiedlich sein und hängt von verschiedenen Faktoren ab – Ausprägung, Intelligenz, Geschlecht, Umfeld, Fähigkeit zur Anpassung (Masking), Persönlichkeit, Prägung usw.

Ausserdem weisen viele Menschen im Autismus Spektrum auch eine ADHS und teilweise eine Hochbegabung auf, was die Merkmale auch verstärken, kompensieren oder auf eine ganz andere Art erscheinen lassen kann.

Diagnose und Diagnostik

Ob ein Mensch sich im Autismus Spektrum befindet, kann von speziell dafür ausgebildeten Fachpersonen abgeklärt werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Person selber oder ein Therapeut oder eine Ärztin den Verdacht geäussert hat. Werden bestimmte Kriterien in Anzahl und Stärke erfüllt, wird die Diagnose Austismus-Spektrum-Störung gestellt. Werden nur einige Kriterien erfüllt oder ist die Ausprägung insgesamt zu gering, spricht man aktuell von autistischen Zügen. Der Übergang in das Autismus Spektrum ist also fliessend. Die diagnostischen Kriterien umfassen die folgenden Punkte.

Diagnostische Kriterien

Die diagnostischen Kriterien gemäss ICD-11 umfassen die folgenden Punkte.12

  • Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion
  • Auffälligkeiten in Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten
  • Die Merkmale bestehen bereits seit der frühen Kindheit, auch wenn sie erst später entdeckt wurden
  • Die Symptome führen zu einer Beeinträchtigungen im persönlichen, familiären, sozialen, schulischen oder beruflichen Bereich (auch wenn dies von aussen nicht sichtbar ist).

Bis vor Kurzem wurde in drei unterschiedliche Diagnosetypen unterteilt, je nach dem wann, wie ausgeprägt und welche Merkmale sich zeigten:13

Frühkindlicher Autismus

Ausschlaggebend für den frühkindlichen Autismus war, dass Auffälligkeiten bereits ab dem ersten Lebensjahr erkennbar sind. Neben den typischen Merkmalen kommt es hier auch zu einer verspäteten oder fehlenden Sprachentwicklung. Häufig zeigt sich auch ein allgemeiner Entwicklungsrückstand. Zeigt sich trotz verspäteter Sprachentwicklung ein durchschnittlicher bis überdurchschnittlicher IQ wird auch vom hochfunktionalen Autismus gesprochen.

Asperger Autismus

Diese Form des Autismus wird oft auch als unsichtbarer Autismus beschrieben. In den ersten Jahren entwickelt sich das Kind altersentsprechend und zeigt keine Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung. Erst im Umgang mit anderen Menschen und beim Lernen zeigt sich die Andersartigkeit. Auch die motorischen Schwierigkeiten wurden nur bei den Asperger Autistinnen und Autisten entdeckt. In diesem Artikel geht es vorwiegend um diese Ausprägung im Autismus Spektrum, da es gerade die Unsichtbarkeit besonders schwierig macht, diese zu erkennen.

Atypischer Autismus

Zeigen sich zwar klar Merkmale des Autismus Spektrums, passen die Symptome in ihrer Art der Ausprägung oder des Erscheinungszeitpunktes aber nicht zum frühkindlichen und auch nicht zum Asperger Autismus, wurde die Diagnose des Atypischen Autismus vergeben.

Aktuelle Diagnose: Autismus-Spektrum-Störung ASS

In der Diagnostik zeigten sich vermehrt Schwierigkeiten in der Zuteilung des Untertyps. Die Kategorien stimmten nicht genau und die Diagnose des atypischen Autismus nahm zu.

Um der Vielfältigkeit der autistischen Merkmale und Kombinationen gerecht zu werden, führte die American Psychiatric Association 2013 im DSM 5 die Autismus-Spektrum-Störung ein.

2021 zog die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems mit der ICD-11 nach. In der Schweiz und in Deutschland wird nach der ICD diagnostiziert. Da diese noch nicht offiziell ins Deutsche übersetzt wurde, gibt es immer noch Fachpersonen, die die alten Kategorien nach ICD-10 diagnostizieren.

Die Doppeldiagnose Autismus und ADHS ist nur im DSM 5 und im ICD-11 möglich. Fachstellen, die nach dem ICD-10 gehen, können nur Autimus oder ADHS diagnostizieren.

Um verschiedene Ausprägungen und Formen voneinander abzugrenzen, gibt es aber auch im ICD-11 wieder Unterdiagnosen. Es wird unterschieden, ob eine Intelligenzminderung oder eine Störung in der Entwicklung der Sprache oder beides oder nichts davon zusätzlich auftritt.12

Vor- und Nachteile der aktuellen Autismus-Spektrums-Störung Diagnose

Die Bezeichnung Autismus Spektrum zeigt auf, dass die Vielfalt der Menschen mit dieser Besonderheit gross ist und die Zuteilung in drei Kategorien nicht funktioniert. Sie zeigt auf, dass es die typischen Merkmale nicht immer gibt und dass nicht einzelne Kriterien wie bspw. Blickkontakt oder spezielle Interessen Hinweise darauf liefern, dass es sich um Autismus handelt oder eben nicht.

Die Anpassungen werden aber auch kritisiert. Dieses breite Spektrum macht es schwieriger für Fachpersonen Autismus zu erkennen. Ausserdem ist die Bandbreite von schwer behinderten Menschen mit Sprachproblemen und grossem Unterstützungsbedarf zu Menschen, die im Leben grundsätzlich gut klar kommen und ihre Schwierigkeiten mehr durch das Nicht-Verstanden-Werden entstehen, im selben Spektrum so gross, dass dies die Forschung am Thema Autismus erschwert. Laurent Mottron14 vertritt die Meinung, dass deshalb die Autismus Diagnose nur noch die Kinder erhalten sollen, die die Kriterien des ehemaligen frühkindlichen Autismus erfüllen. So könne sich die Forschung besser auf die «ursprünglichen» Symptome und Unterstützungsmassnahmen konzentrieren.

Dies könnte dann hilfreich sein, wenn ebenso die leichteren Formen und die, die bis heute nicht oder erst spät erkannt werden, mehr in den Fokus der Forschung rücken würden und damit klarer erkennbar wird, wie sich unsere Gesellschaft verändern muss, damit auch Menschen mit leichten Formen von Neurodivergenzen ihren Platz finden und keine psychischen Erkrankungen entwickeln.

Pathological Demand Avoidance (PDA)

Das Pathological Demand Avoidance, kurz PDA, ist keine offizielle Diagnose. Fachpersonen aus dem Bereich Autismus, wie bpsw. der Autismus Experte Tony Attwood, sind der Auffassung, dass es sich um ein spezielles Profil im Bereich Autismus handelt. Menschen in diesem Spektrum zeigen eine Verhaltensform, die durch intensive Verweigerung und Ablehnung von Anforderungen jeglicher Art geprägt ist. Mehr dazu findest du auf der Webseite des Fachverein PDA Autismus Profil.

Wer stellt die Autismus Diagnose und wie?

Die Abklärungen und anschliessend die Diagnose werden durch spezialisierte Psychotherapeuten oder Psychiaterinnen gestellt.

Das Autismuszentrum Zürich braucht für die Abklärung von Erwachsenen in der Regel 6 Termine. Einer davon mit einer Drittperson, die die abzuklärende Person gut und lange kennt. Ausserdem werden verschiedene Fragebögen und Testverfahren eingesetzt. Es ist nicht möglich Autismus durch einen Hirnscan oder ähnliches zu erfassen. Eine Abklärung bei Kindern kann unter Umständen aufwändiger sein und sollte auch immer ausführliche Elterngespräche und Schulbesuche oder Austausch mit Therapeutinnen oder Lehrern beinhalten.

Probleme in der Autismus-Diagnostik: wird Autismus nicht immer erkannt?

Die diagnostischen Kriterien für eine Autismus Spektrum Störung Diagnose sind sehr allgemein gehalten und beschränken sich auf die Kategorie, wo die Auffälligkeiten bestehen. Wie sich diese zeigen, kann jedoch sehr unterschiedlich sein.

Autismus ist unsichtbar

Viele normalbegabte autistische Menschen entwickeln teilweise bereits in der Kindheit Kompensationsstrategien und Anpassungen, sodass ihre autistischen Merkmale gegen aussen nicht mehr auffallen. Bspw. bewusstes Steuern der Mimik oder das Aufrechterhalten des Blickkontaktes in Gesprächen, das Unterdrücken von bestimmten Verhaltensweisen oder das ständige Anpassen von Aussagen. Dieses Anpassen wird auch Masking genannt. Es kann bewusst oder auch ganz unbewusst geschehen und ist immer mit viel Anstrengung verbunden. Vor allem das unbewusste Maskieren führt dazu, dass die Autismus Merkmale auch von psychologischen oder psychiatrischen Fachpersonen nicht erkannt werden.

Autismus ist eine junge Diagnose

Der frühkindliche Autismus fand 1980 im DSM III Einzug, wobei die Kriterien für eine Diagnose damals noch viel enger gesteckt wurden. Die Diagnose des Asperger Syndroms wurde erste 1993 ins ICD-10 aufgenommen. Das heisst, dass alle Menschen, die bereits vor 1993 die typischen Merkmale des Asperger Syndroms gezeigt haben, diese Diagnose nicht erhalten konnten.

Autismus-Diagnosekriterien bei Frauen

Lange glaubte man, dass Autismus vorwiegend beim männlichen Geschlecht auftritt. Die Forschung und die typischen Merkmale orientierten sich deshalb an den Merkmalen, die in der Mehrzahl bei Männern und Frauen auftritt. Dies ist oft auch heute noch in den Diagnosekriterien und in den spezifischen Fragebögen, welche bei der Diagnostik verwendet, werden der Fall. Frauen und Mädchen werden also vorallem dann erkannt, wenn sie „männliche“ Autismus-Merkmale aufweisen. Bei Mädchen und Frauen zeigen sich die Merkmale aber häufig anders – subtiler und weniger stark ausgeprägt. Auch gelingt das Masking Frauen und Mädchen oft besser als Jungen und Männern. Mädchen und Frauen, bei denen sich Autismus anders als bisher angenommen zeigt, erhalten die Diagnose nicht oder erst sehr spät. Dies gilt übrigens auch für Männer, die eher „weibliche“ Merkmale aufweisen.

Co-Diagnosen

Andere Diagnosen wie Depressionen, Zwangs- oder Angststörungen können überdecken, dass sich der Mensch auch im Autismus Spektrum befindet. Dies ist besonders verheerend, weil diese Störungen höchst wahrscheinlich erst durch die unerkannte Autismus Spektrums Störung entstanden sind. Auch eine zusätzliches ADHS kann die Autismus Merkmale anders erscheinen lassen.

Fehlendes Wissen bei Fachpersonen

Alle diese Punkte machen es für Fachpersonen besonders komplex, eine Autismus Spektrums Störung zu erkennen und zu diagnostizieren. In der Schweiz wird der Autismus Spektrums Störung oder früher dem Asperger Syndrom in der Ausbildung zum Psychotherapeuten oder zur Psychotherapeutin aber nur wenig Zeit gewidmet. Gemäss der Psychotherapeutin Verena Jaggi, die sich auf das Autismus Spektrum spezialisiert hat, wird aktuell ca. ein Tag dafür aufgewendet. Wer jedoch die verschiedenen Erscheinungsbilder in der Therapie erkennen möchte, muss sich gezielt auf diesem Gebiet weiterbilden. Aktuell sei dies in der Schweiz jedoch nur eine kleine Gruppe von Therapeuten und Ärztinnen, die sich auf die Therapie und die Diagnostik von Menschen im Autismus Spektrum spezialisiert haben.15 Aber wer geht schon zum Autismus Spezialisten, wenn er gar nicht weiss, was mit ihm los ist

Ursachen und Entstehung von Autismus

Obwohl die moderne Hirnforschung bereits einige wichtige Erkenntnisse liefern konnte, ist bis heute ist nicht ganz geklärt, wie Autismus entsteht und was die genauen Ursachen dafür sind. Klar ist, dass Autismus keine Krankheit ist und nicht zwingend eine Behinderung, sondern eine neurologische Besonderheit, eine andere Art zu Sein.16 Warum im Zusammenhang von Autismus trotzdem von «Störung» oder «Störungsbild» gesprochen wird, erklärt der Schweizer Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Schwerpunkt Autismus Spektrum besonders treffend:

Dass im Zusammenhang von Autismus von „Störung“ gesprochen wird, hat damit zu tun, dass die Besonderheit Autismus im Austausch mit der Gesellschaft und dem damit verbunden Anpassungsdruck unweigerlich zu Stress bei den Betroffenen führt. Und dieser Stress führt unmittelbar zu unangemessenem Verhalten und längerfristig auch zu Zuständen mit Krankheitswert. Mit «Autistischer Störung» ist also sinngemäss der Folgezustand gemeint, der bei vielen Betroffenen – insbesondere solange sie unerkannt sind – zwangsläufig entsteht.16

Genetik

Dass die Vererbung mit 90% eine entscheidende Rolle beim Auftreten von Autismus spielt, ist heute unbestritten. Wie es genau dazu kommt, ist jedoch noch weitgehend ungeklärt. Denn nicht ein einzelnes Gen oder eine bestimmte Gruppe von Genen führt mit Sicherheit zu autistischen Merkmalen.16

Autismus wird in den allermeisten Fällen von den Eltern an die Kinder vererbt.

So kann man heute nur noch Wahrscheinlichkeiten sprechen. Je mehr von den für Autismus verantwortlichen Genen vererbt werden, desto wahrscheinlicher, dass Autismus auftritt.16

Mutter mit Kleinkind afu dem Arm.

Die neurologische Besonderheit Autismus wird in den allmeisten Fällen vererbt. Autistische Kinder haben also ganz häufig mind. einen Elternteil, der ebenfalls im autistischen Spektrum ist oder der autistische Züge aufweist.

Evolutionärer Vorteil

Die starke genetische Komponente lässt die Schlussfolgerung zu, dass Autismus auch mit vielen positiven Eigenschaften verbunden sein muss, die aus evolutionsbiologischer Sicht mit einem klaren Vorteil für das einzelne Individuum verbunden sein müssen. Neure Ergebnisse aus der Evolutionsforschung liefern sogar Hinweise, dass je grösser die individuellen Unterschiede der einzelnen Mitglieder in einer Gruppe sind, desto grösser die Überlebenschancen dieser Gruppe ist. Die hohe Erblichkeit zeigt, dass Menschen mit Autismus von der Evolution nicht ausgeschieden wurden, ihre besondere Art mit allen Fähigkeiten und Defiziten wurden von der Gemeinschaft erkannt, geschätzt und mitgetragen.16

Schädigung des Gehirns

Es gibt auch Hinweise darauf, dass für Autismus mit zusätzlichen intellektuellen Beeinträchtigungen (früher frühkindlicher Autismus) eine leichte Schädigung des Gehirns verantwortlich sein kann. Diese Schädigung kann in der Schwangerschaft oder bei der Geburt entstanden sein. Die Schädigung kann so leicht sein, dass sie so gut wie keinen Einfluss auf die körperliche Entwicklung hat und in Untersuchungen nicht klar nachgewiesen werden kann. Die Hirnschädigung hätte vermutlich auf die kindliche Entwicklung keinen Einfluss, im Zusammenhang mit den «Autismus-Genen» jedoch schon.16 Diese Erkenntnis liefert weniger Hinweise für die Entstehung von Autismus, sondern zeigt eine gewisse Vulnerabilität auf, die eine Erklärung sein kann, weshalb es im Autismus Spektrum vermehrt zu intellektuellen Beeinträchtigungen kommen kann.

Keinen Einfluss auf die Entstehung von Autismus

Auch wenn noch nicht alle Faktoren bekannt sind, die schlussendlich zu autistischen Merkmalen führen, kann klar gesagt werden, dass Autismus weder durch Erziehung, durch seelische oder körperliche Traumas16 oder durch Impfungen entsteht17.

Komorbiditäten bei Autismus

Menschen im Autismus Spektrum sind nicht krank, aber sie erleben oft grossen Druck, ihre andere Art zu sein, wahrzunehmen oder zu denken, an die gesellschaftlichen «Normen» anzupassen.

Je grösser dieser Druck ausfällt, desto mehr psychische und körperliche Beschwerden werden sich voraussichtlich zeigen.

Je grösser der Druck ausfällt, desto mehr psychische und körperliche Beschwerden werden sich voraussichtlich entwickeln.

Dieser Druck kann von aussen kommen, z.B. von den Eltern, der Schule, dem Arbeitgeber, aber auch von innen. Besonders dann, wenn die Andersartigkeit durch Verständnislosigkeit, Mobbing, Kritik oder häufigem Scheitern in Beziehungen, Freundschaften oder auch der Arbeitswelt geprägt ist. Das Risiko psychisch zu erkranken ist besonders hoch, wenn die Diagnose oder das Wissen über den eigenen Autismus fehlen. Folgend die häufigsten psychischen Erkrankungen, von denen Menschen im Autismus Spektrum betroffen sein können.

Autismus und Depression

Depressionen sind eine häufige Reaktion auf Frustrationen, Enttäuschungen, Einsamkeit oder unterdrückte Wut.16

Autismus und Angststörung

Ängste kommen bei Menschen im Autismus Spektrum besonders häufig vor, weil die heutige Welt mit ihren vielen Reizen, Unvorhersehbarkeiten, Veränderungen und Erwartungen, täglichen Stress auslösen können. Können Menschen im Autismus Spektrum davor nicht geschützt werden, ist die Gefahr gross, eine Angststörung zu entwickeln.16

Person mit Kapuze und Händen am Kopf sitzt ängstlich an einem Bahngleis.

Unkontrollierbare Reize, unvorhersehbare Veränderungen und das Nicht-Verstanden-werden in sozialen Situationen, führen dazu, dass sich viele autistische Menschen überdurchschnittlich oft ängstlich fühlen.

Autismus und Zwangsstörungen

Die Angst vor Unvorhersehbarkeiten und Veränderungen kann zu strikten Ritualen und wenig Flexibilität führen. Auch die hohe Detailwahrnehmung kann dazu führen, dass visuelle Reize in «geordneter» und «sortierter» Weise besser ausgehalten werden können. Auch andere Überreizungen können dazu führen, dass nur bestimmte Vorgehensweisen oder Dinge akzeptiert werden. Dies kann von aussen bereits zwanghaft wirken, ist aber häufig ein Weg, mit Reizen und Unvorhersehbarkeit umzugehen. Einen Krankheitswert nehmen die Handlungen jedoch erst an, wenn die autistischen Menschen selbst oder ihr Umfeld in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt werden.16

Autismus und Essprobleme

Die Kriterien, weshalb Menschen im Autismus Spektrum gewisse Lebensmittel auswählen oder ablehnen, unterscheiden sich häufig von denen von Menschen ausserhalb des Autismus Spektrums. So können z.B. Geruch, Aussehen, Konsistenz, Temperatur, Verpackung, Bekanntheit des Lebensmittels oder eben nicht, moralische Kriterien, wie das Lebensmittel entstanden, ist einen grossen Einfluss auf die Wahl des Lebensmittels haben.16

Kind verweigert die angebotene Nahrung des Vaters.

Autistische Menschen sind oft ausgesprochen selektive Esser, was gerade Eltern rat- und hilflos machen kann.

Autismus und Schlafprobleme

Frau liegt mit offenen Augen schlaflos im Bett.

Einschlafprobleme bei autistischen Menschen sind häufig.

Menschen im Autismus Spektrum sind überdurchschnittlich oft von Schlaf- und besonders von Einschlafstörungen betroffen. Dies hängt mit den Schwierigkeiten von Übergängen (flexibles Denken) und dem Runterfahren und Entspannen zusammen. Der Intellekt läuft auf Hochtouren und produziert Ideen, Fantasien, aber auch Ängste und Sorgen.16

Autismus und ADHS

Obwohl auch ADHS genauso wie Autismus nicht als Krankheit gilt, soll diese Kombi hier eine Erwähnung finden. Lange Zeit ging man nämlich davon aus, dass ADHS und Autismus sich gegenseitig ausschliessen. Eine Doppeldiagnose war deshalb nicht möglich. Was Experten und Betroffene jedoch schon lange vermuteten, zeigen nun auch neuste Studien: 50-80% (andere Quellen sagen auch mind. 75%5) aller Kinder mit einer Autismus Diagnose erfüllen auch die Kriterien für ADHS.16

Therapien

Therapien und Behandlungen sollten nie zum Ziel haben, die autistischen Merkmale wegtherapieren zu wollen. Vielmehr sollte es in Therapien darum gehen, einen gesunden Umgang mit der anderen Art zu sein und wahrzunehmen und mit den Erwartungen der Umwelt zu erlernen.

Autismus ist keine Krankheit, die medizinisch oder psychiatrisch behandelt werden soll. Es ist vielmehr eine Besonderheit, die von der unmittelbaren Umgebung Verständnis erfordert.16

Nach einer Diagnose oder dem Feststellen von Autismus bei einem Erwachsenen oder einem Kind ist die Psychoedukation besonders wichtig – das Verstehen von Autismus und den Merkmalen im Allgemeinen und im Hinblick auf die betreffende Person. Welche Eigenschaften und Verhaltensweisen können dem Autismus zugeschrieben werden und welche haben vielleicht auch andere Gründe haben. Das Wissen rund um Autismus kann man sich auch verschiedene Weise aneignen, z.B. wie folgt:

Person, die an einer Selbsthilfegruppe online teilnimmt.

In Selbsthilfegruppen fühlt man sich verstanden und muss sich nicht verstellen, um akzeptiert zu werden. Für autistische Personen können auch online geführte Gruppen hilfreich sein.

Erst durch ein umfassendes Verständnis von Autismus kann das eigene Leben und bei Kindern in besonderem Masse auch das gesamte Umfeld so gestalten werden, dass Stress, Anpassungsdruck und Überreizung stark reduziert werden und nicht zu Krankheiten oder Störungen führen.

Je nach Anpassungsmöglichkeiten, aktuellen Gegebenheiten und der individuellen Ausprägung des Autismus, kann es natürlich dennoch zu Schwierigkeiten in verschiedenen Bereichen wie Schule, Freundschaft, Freizeit, Beruf oder mit der eigenen Psyche kommen. In diesem Fall sollten vor allem Therapieangebote im Bereich Psychotherapie, Coaching, Beratung unter dem Aspekt gewählt werden, dass sich die Fachperson auf Autismus spezialisiert hat oder zumindest umfassendes Fachwissen und Erfahrung mit Menschen im Autismus Spektrum aufweist. Unterstützungsangebote, die sich für autistische Menschen eignen sind unter anderen auch Ergotherapie, Sozialtraining, Psychomotorik oder Reittherapie.

Weitere Artikel zum Thema Autismus

    Quellen

    1. Maria Zimmermann: Anders nicht falsch.
    2. Business Insider: Artikel von Aylin Woodward über Greta Thunberg.
    3. Stefanie Meer-Walter: Autistisch? Kann ich fliessend!
    4. Deutsche Welle, Artikel von Carla Bleiker: Welt Autismus Tag: Die bekanntensten Beispiele.
    5. Tony Attwood: Ein Leben mit dem Asperger Syndrom.
    6. Ulrich Merkl: Die unglaubliche Welt genialer Menschen mit Autismus.
    7. Instagram Beitrag von chaarlottchen: Dinge, die ich als Autistin sensorisch nicht ertragen kann.
    8. Linus Müller, Autismus Kultur: Zehenspitzengang.
    9. Zeit.de, Interview von Konrad Wolf: Wie Menschen im Autismus Spektrum ihre Gefühle ausdrücken.
    10. Spektrum der Wissenschaft Kompakt, Neurodiversität: Denkfehler, Autisten urteilen rationaler.
    11. Linus Müller, Autismus Kultur: mehrere Artikel
    12. Budesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte: ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung
    13. Autismus Schweiz, Autismus-Spektrum-Störung
    14. Laboratoire de Laurent Mottron: diverse Artikel
    15. Verena Jaggi, Podcast der CSS Hallo Gesundheit: Autismus Faktencheck mit Verena Jaggi
    16. Thomas Girsberger: Die vielen Farben des Autismus.
    17. Spektrum.de, Artikel von Daniela Mocker: Fünf Dinge über Autismus, die häufig missverstanden werden.
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