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Die häufigsten Vorurteile rund um Autismus.

Klischees, Vorurteile und Missverständnisse in Bezug auf Autismus gibt es unzählige. Nicht zuletzt sind hierfür auch durch die Medien geprägte Bilder verantwortlich, die häufig einen männlichen, sozial eher unbeholfenen und mit besonderen Fähigkeiten ausgestatteten Autisten zeichnen.

Facts und durchgestrichenes Myths geschrieben mit Kreide auf schwarzer Wandtafel

Was stimmt und was stimmt nicht? Wir räumen mit alten Mythen rund um Autismus auf.

Teilweise halten sich auch veraltete und und schon lange widerlegte Theorien hartnäckig in den Köpfen. Auf die häufigsten wird folglich kurz eingegangen.

Stimmt nicht immer: AutistInnen haben seltsame Interessen

Sogenannte Spezialinteressen müssen nicht immer speziell sein, wie z.B. Eisenbahnen, Astrophysik, Strommasten oder Toilettenspülungen. Sie können durchaus typisch sein für das jeweilige Alter oder Geschlecht der autistischen Person. Aussergewöhnlich kann nämlich auch die Intensität sein, mit der dem Interesse nachgegangen wird und das immense Wissen das dabei erworben wird. Die Interessen können bei Mädchen z.B. Pferde, Delfine, Tierschutz oder Mode sein. Bei Jungen z.B. Dinosaurier, bestimmte TV-Sendungen oder Computerspiele wie Minecraft – oder natürlich auch umgekehrt. Frauen und Männer können sich bspw. für Biologie, Geschichte, Vögel oder Psychologie interessieren. Das Spezialinteresse kann sich jedoch auch in dem Bereich Sport, Kunst oder Musik befinden.

Stimmt nicht immer: AutistInnen haben besondere Begabungen

Ganz besondere Fähigkeiten, sogenannte Inselbegabungen, sind kein Merkmal von Autismus, sondern werden mit dem Savant-Syndrom bezeichnet. Vermutlich sind etwa die Hälfte aller Menschen mit dem Savant-Syndrom autistisch, aber noch lange nicht alle Autistinnen und Autisten haben das Savant-Syndrom.

Menschen im Autismus Spektrum sind nicht zwangsläufig hochbegabt oder geistig behindert. Das Autismus Spektrum umfasst eine recht grosse Bandbreite an Menschen mit autistischen Merkmalen, die sich auch in ihren kognitiven Fähigkeiten stark unterscheiden können. So gibt es zwar hochbegabte und geistig behinderte Autisten und Autistinnen, es gibt aber auch viele die durchschnittlich begabt sind.

Stimmt nicht immer: AutistInnen wollen keinen Blickkontakt

Er kann mir ja in die Augen schauen, dann kann er doch kein Autist sein.

Immer wieder hört man diese Aussage – teilweise sogar von Fachpersonen. Einige Autisten und Autistinnen können Blickkontakt halten und ihrem Gegenüber in die Augen schauen. Einige machen dies ganz bewusst, um nicht aufzufallen, andere haben sich dies unbewusst angeeignet und nochmals anderen ist der Blickkontakt nicht unangenehm. Blickkontakt ist also kein Ausschlusskriterium für Autismus. Genauso gibt es aber auch Menschen im Autismus Spekrum, die Augenkontakt äusserst unangenehm finden und sich dabei nur schwer auf ein Gespräch konzentrieren können.

Frau schaut über die Sonnenbrille hinweg direkt in die Kamera.

Auch Menschen im Autismus Spektrum können anderen Menschen in die Augen schauen. Das ist kein Ausschlusskriterium für Autismus.

Stimmt nicht: Autismus wird durch Impfungen ausgelöst

Autismus wird nicht durch Impfungen ausgelöst. Für diesen hartnäckigen Mythos ist unter anderem der britische Arzt Andrew Wakefield verantwortlich. Er veröffentlichte 1998 eine Studie im Fachjournal The Lancet, in der er einen Zusammenhang zwischen der Masern-Mumps-Röteln-(MMR)-Impfung und neurologischen Entwicklungsstörungen herstellte. In der Folge sank in England die Impfquote bei Kleinkindern unter zwei Jahren auf unter 80 Prozent, da viele Eltern verunsichert waren.

Später wurde allerdings bekannt, dass Wakefield finanzielle Eigeninteressen hatte, da er selbst ein Patent auf einen Masernimpfstoff angemeldet hatte. Aufgrund dieses schweren Interessenkonflikts und methodischer Mängel distanzierten sich viele seiner Mitautoren von der Studie, sodass auch The Lancet sie 2010 vollständig zurückzog.

Baby bei der Kinderärztin in Erwartung einer Impfung

Studien belegen klar, dass Autismus nicht durch die MMR-Impfung oder andere verursacht wird.

Gross angelegte Studien widerlegten ebenfalls Wakefields Behauptungen: Eine Metaanalyse in der Fachzeitschrift Vaccine, die Daten von 1,3 Millionen Menschen auswertete, zeigte, dass die Häufigkeit von Autismus bei geimpften und ungeimpften Kindern gleich ist. Weder die MMR-Impfung noch verdächtigte Inhaltsstoffe wie das quecksilberhaltige Konservierungsmittel Thiomersal stehen in Verbindung mit der Entstehung von Autismus.

Stimmt nicht immer: AutistInnen sind Einzelgänger

Autisten und Autistinnen müssen keine Einzelgänger oder introviertiert sein. Es gibt auch extrovertierte autistische Personen, die die Gesellschaft von anderen Menschen schätzen und Energie aus den Kontakten ziehen können. Menschenansammlungen und unbekannte Personen können aber auch mit vielen Reizen und anstrengenden sozialen Ineraktionen verbunden sein, weshalb solche Situationen meistens nur dosiert eingegangen oder ganz vermieden werden.

Aber unabhängig davon, ob extra- oder introvertiert, auch Autistinnen und Autisten sind soziale Wesen und möchten Bindungen eingehen, Freundschaften knüpfen und sich Zugehörig fühlen.

Stimmt nicht: AutistInnen haben keine Gefühle

Autisten und Autistinnen sind nicht gefühlskalt und besitzen durchaus Empathie. Sie teilen ihre Gefühle jedoch nicht immer auf die gewohnte Weise mit und reagieren in emotionalen Situationen teilweise rationaler oder distanzierter. Mehr dazu findest du hier.

Ein fotobasierter Test des Max-Planck-Instituts konnte zeigen, dass autistische Menschen genauso viel emotionale Empathie aufweisen wie nicht autistische Personen. Unter emotionaler Empathie versteht man die Fähigkeit zum Mitgefühl und zur Anteilnahme. Mit der kognitiven Empathie, also dem Erkennen und Verstehen von emotionalen Gemütszuständen, zeigten sich jedoch Schwierigkeiten. Wenn man dabei bedenkt, dass Menschen im Autismus Spektrum mehr Schwierigkeiten haben, soziale Regeln, Andeutungen oder auch Gesichtsausdrücke zu erkennen und zu deuten, dann verwundert dieses Testergebnis wenig. Mit einem Mangel an Gefühlen oder Empathie hat dies jedoch nichts zu tun.

Stimmt nicht: Autismus entsteht durch eine gefühlskalte Erziehung

Autismus entsteht weder durch Traumas noch durch eine gefühlskalte oder anderweitig nicht optimale Erziehung. In den 1960er Jahren entwickelte sich eine Theorie, die die Ursachen von kindlichem Autismus bei der „gefühlskalten“ Mutter suchte. Mit dieser Sichtweite wurde nicht nur den betroffenen Müttern grosses Unrecht getan, sie führte auch zu einer defizitorientierten Betrachtungsweise von Autismus. Aktuelle Forschungen belegen klar, dass Autismus zu 90% durch Vererbung entsteht.

Stimmt nicht: es gibt den typischen Autisten

Es gibt nicht den typischen Autisten. Das Autismus Spektrum ist breit und so vielfältig die Ausprägungen und Merkmale von Autismus sein können, so vielfältig sind auch die Persönlichkeitsmerkmale von autistischen Menschen. Autisten und Autistinnen können Ärztinnen sein, Comedian, Schauspielerinnen, Mütter, Psychologen, Studentinnen, Pflegefachleute, Lehrer, Partnerinnen, Führungskräfte, Model und alles, was nicht-Autisten oder nicht-Autistinnen ebenfalls sein können.

Stimmt nicht: Autismus kann man heilen

Autismus ist keine Krankheit und kann deshalb auch nicht geheilt werden. Für viele Forscher, Angehörige und Autisten steht ausserdem fest, dass Autismus auch keine Heilung braucht. Die autistischen Merkmale bringen nämlich nicht nur Schwierigkeiten mit sich, sondern oft auch ganz besondere Stärken. Aber auch in der medizinischen Betrachtungsweise wird Autismus nicht als Krankheit – weder psychisch noch physisch, sondern als neurologische Entwicklungsstörung betrachtet.

Stimmt nicht: man erkennt autistische Personen am Aussehen oder am Verhalten

Du bist autistisch? Das sieht man dir aber gar nicht an!

Oft hören spätdiagnostizierte Autisten und Autistinnen nachdem sie über ihre Diagnose gesprochen haben: Du bist autistisch? Das merkt oder sieht man dir aber gar nicht an! Autismus ist unsichtbar und viele Autistinnen und Autisten sind im Stande ihre autistischen Merkmale im Aussen zu verbergen.

Frau in fragender Geste auf gelbem Hintergrund.

Autistisch oder nicht? Wir sehen es dieser Person und auch anderen nicht an.

Stimmt nicht immer: An Autismus leiden

Menschen leiden nicht an Autismus. Und sie sind auch nicht an Autismus erkrankt. Diese Aussagen implizieren, dass Autismus nur negatives Seiten hat. Viele autistische Menschen würden ihre andere Art zu Sein jedoch nicht weggeben wollen. Jemandem, der über seine Diagnose oder die seines Kindes spricht mit den Worten „das tut mir aber leid für dich“ zu begegnen, kann zwar gut gemeint sein, fühlt sich für autistische Menschen aber nicht unbedingt so an. Autismus ist eine andere Art zu sein, zu denken und wahrzunehmen, die weder schlechter noch besser ist.

Wenn autistische Personen leiden, liegt das meistens nicht am Autismus, sondern an einem Umfeld, dass die autistischen Besonderheiten nicht berücksichtigt und an falschen Erwartungen.

Stimmt nicht: AutistInnen sind nicht beziehungsfähig

Autistische Menschen können glückliche Partnerschaften und Beziehungen führen und sind nicht per se „beziehungsunfähig“. Auch wenn die autistischen Merkmale besonders in sozialen Interaktionen zu Schwierigkeiten führen können, können Autistinnen und Autisten ausgezeichnete Partnerinnen und Freunde sein.

Junges Pärchen ist zusammen einen Snack.

Die meisten autistischen Personen haben genauso das Bedürfnis nach einer Beziehung. Ob diese gelingt, hängt von denselben Kriterien wie bei nicht-autistischen Personen ab.

Das Wissen über Autismus und den Eigenschaften, Herausforderungen und Stärken, die damit einhergehen, kann auf beiden Seiten helfen, Verständnis zu schaffen und Missverständnissen vorzubeugen.

Stimmt nicht: Frauen sind nicht oder nur sehr selten autistisch

Autismus gilt als deutlich häufiger bei Männern als bei Frauen – doch diese Annahme beruht womöglich auf einem diagnostischen Bias.

2021 untersuchte die Neurowissenschaftlerin Anila D’Mello am MIT das Gehirn autistischer Frauen und stellte fest, dass sich ihre Daten stark von denen männlicher Probanden unterschieden. Eigentlich suchte ihr Team nicht gezielt nach Geschlechtsunterschieden, doch die Ergebnisse liessen Zweifel an bisherigen Studien aufkommen.

Bei der Rekrutierung weiterer Autistinnen zeigte sich ein Problem: Ein gängiger Diagnosetest schloss viele Frauen aus. Nur die Hälfte der 50 getesteten Teilnehmerinnen erfüllte offiziell die Kriterien für Autismus – obwohl sie bereits eine klinische Diagnose hatten.

Bislang ging man von einem Verhältnis von vier autistischen Männern auf eine Frau aus. Doch neuere Erkenntnisse deuten darauf hin, dass es in Wirklichkeit eher drei zu eins beträgt – ein Zeichen dafür, dass Autismus bei Frauen systematisch übersehen wird.

Autorenportrait von Daniela Hog

Daniela Hog

Daniela ist Mutter von drei Kindern und lebt selbst in einer mehrfach neurodivergenten Familie. Sie gründete die Plattform neuro spectrum, um mehr Aufklärung und Sichtbarkeit rund um Neurodivergenz zu schaffen. Dabei bringt sie ihren beruflichen Hintergrund in Sozialer Arbeit und Marketing ein.

Quellen
Spektrum.de, Artikel von Daniela Mocker: Fünf Dinge über Autismus, die häufig missverstanden werden.

Spektrum.de, Ulrike Gebhardt: Fünf Fakten zum Impfen – Aluminium, Autismus und andere Vorurteile.

Max-Planck-Gesellschaft, Isabel Dziobek: Empathie bei Menschen mit Autismus.

Thomas Girsberger: Die vielen Farben des Autismus

Spektrum.de, Ingrid Wickelgren: Warum Frauen seltener in Autismus Studien einbezogen werden

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