von Simone Tuena-Küpfer

Mädchen mit subtilem weiblichen Autismus stehen in der Schule oft vor besonderen Herausforderungen.
- Ellas Schultag – wenn Anpassung zur täglichen Anstrengung wird
- Bei Ella zuhause – die Maske fällt, der Stress wird sichtbar
- Schule als Herausforderung für neurodivergente Kinder
- Wie ein inklusives Klassenzimmer nicht nur Autistinnen unterstützen kann
- Flexible Unterrichtsgestaltung – weil nicht alle gleich lernen
- Im Team für das Kind – wenn Schule, Therapie und Eltern Hand in Hand arbeiten
- Blick in die Zukunft – wie echte Neuroinklusion gelingen kann
- Ein herzliches Dankeschön
Ellas Schultag – wenn Anpassung zur täglichen Anstrengung wird
Ella besucht die 1. Sekundarstufe. Im Unterricht fällt sie kaum auf – sie wird als eher schüchternes, angepasstes Mädchen wahrgenommen, das sehr fleissig und oft ein wenig perfektionistisch ihre Aufgaben erfüllt. Sie hat noch nie etwas zu Hause vergessen oder ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Ihr Pult ist stets ordentlich, jedes Material hat seinen festen Platz.
Besonders wichtig ist ihr der blaue Lieblingsstift, mit dem sie sich häufig die Handballen massiert. Dieser darf weder ins Etui gepackt noch von jemand anderem benutzt werden. Struktur und Ordnung geben Ella Sicherheit. Unerwartete Planänderungen oder Übergänge im Unterricht hingegen verunsichern sie
Ella kennt sich extrem gut mit Quallen aus. Diese Tiere faszinieren sie, und sie kommt regelrecht in einen Redeschwall, wenn man sie auf Quallen anspricht. Dann ist sie alles andere als schüchtern.
Ella befolgt stets alle Anweisungen der Lehrerin, ausser wenn sie eine Ungerechtigkeit empfindet. Dann kann sie die Lehrperson in eine lange, tiefgründige, fast schon erwachsene Diskussion verwickeln und setzt sich energisch für die Gerechtigkeit ein.
Ella fragt öfters, ob sie die Pausen drinnen verbringen oder ob sie kurz nach der Pause aufs WC gehen darf.
Sie mag es gar nicht, wenn während des Unterrichts Gruppen gebildet werden müssen, und tut sich immer etwas schwer damit, sich einer Gruppe zuzuordnen und sich in ihr zu integrieren – vor allem, wenn ihre beste Freundin Sarah nicht mit ihr in der Gruppe ist. Mit ihr zusammen erledigt sie alle Partnerarbeiten.
Bei Ella zuhause – die Maske fällt, der Stress wird sichtbar
Nach der Schule ist Ella meistens sehr erschöpft und gereizt. Ihre Mutter versteht nicht, weshalb Ella zu Hause nach der Schule oft explodiert und auf ganz simple Fragen, wie z. B. «Was möchtest du zum Zvieri essen?», äusserst genervt und gestresst reagiert. Die Mutter kommt dann fast nicht an Ella heran und kann nur schwer nachvollziehen, warum sich Ella für Stunden im Zimmer einschliesst, obwohl sie sich liebevoll nach einem langen Schultag um ihre Tochter kümmern wollte.
Sie sei doch gemäss der Lehrperson eine so ruhige, angepasste und eher schüchterne Schülerin. Die Eltern und Lehrpersonen sorgen sich immer mehr um Ella. Sie scheint – vielleicht auch im Rahmen der beginnenden Pubertät – in letzter Zeit niedergeschlagen, fast etwas apathisch und depressiv. Beim Ansprechen auf die wahrgenommenen Veränderungen sage Ella aber immer, dass alles ok sei.
Schule als Herausforderung für neurodivergente Kinder
Kennst du als Lehrperson eine Schülerin wie Ella? Hast du als Elternteil manchmal das Gefühl, dass die Lehrpersonen ein ganz anderes Kind beschreiben, als du es zu Hause erlebst? Ein möglicher Grund für diesen Unterschied kann die Neurodivergenz sein.
Neurodivergenz beschreibt im Rahmen unserer neurologischen Vielfalt Menschen, deren Reizaufnahme, -verarbeitung und -regulation von der «Norm» abweichen. Diese Unterschiede betreffen oft auch das Lernen und das Verhalten in sozialen Kontexten.
Neurodivergenz zeigt sich zum Beispiel bei SchülerInnen mit folgenden Diagnosen und/oder Veranlagungen – häufig treten auch Kombinationen (sogenannte Komorbiditäten) auf:
- Autismus Spektrum
- ADHS
- Hochbegabung
- Hochsensitivität
- Dyslexie
- Dyskalkulie
- Dyspraxie
- Ticstörungen, Tourette-Syndrom …
Neurodivergente Lernende sind zum Beispiel auch weibliche Autistinnen, die – wie Ella – in der Schule sehr angepasst wirken. Man spricht in diesem Zusammenhang vom subtilen, weiblichen Autismus. Doch auch männliche Autisten können eine ähnliche, unauffällige Ausprägung zeigen. In diesem Bereich besteht noch eine grosse Forschungslücke, denn die Komplexität der Neurodivergenz und des Autismus-Spektrums ist wissenschaftlich noch nicht abschliessend erfasst und befindet sich in stetiger Entwicklung.

Nach Pausen, bei Unvorhersehbarkeiten, Raumwechseln oder anderen Übergängen, Gruppenarbeiten oder sonstigen Veränderungen und sozialen Interaktionen mit vielen Reizen wirken weibliche Autistinnen häufig müde, erschöpft und gestresst. Der Grund dafür ist ihre andere Reizfilterung – sie nehmen deutlich mehr Reize auf, die ungefiltert auf sie einprasseln.
Gerade bei Mädchen im Autismus-Spektrum entlädt sich die chronische Überlastung des vegetativen Nervensystems oft erst zu Hause – im vertrauten Setting und bei vertrauten Personen.
Während des Unterrichts maskieren autistische Mädchen häufig ihren chronischen Overload (= Reizüberflutung). Das heisst, sie versuchen, ihn zu verbergen und möglichst so zu wirken wie die anderen. Dieses ständige Anpassen kostet sie jedoch zusätzlich viel Energie.
Neurophysiologisch lassen sich diese überfordernden Zustände des vegetativen Nervensystems – insbesondere der erhöhten Sympathikusaktivität – als Fight-, Flight-, Freeze- oder Fawn-Reaktionen beschreiben.
Fight-Modus
Der Fight-Modus zeigt sich bei Ella zum Beispiel zu Hause, wo sie auf wertschätzend gemeinte Fragen der Mutter regelrecht explodiert – ein sogenannter Meltdown. Auch ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn kann dazu führen, dass sie die Lehrperson in heftig geführte, beinahe kampfähnliche Diskussionen verwickelt.
Flight-Modus
Oft folgt dann die Fluchtreaktion ins Zimmer oder ein Toilettengang nach einer ermüdenden, reizüberflutenden Pause, um alleine zur Ruhe zu kommen und sich von den anstrengenden sozialen Interaktionen zu erholen.
Freeze-Modus
Im Freeze-Modus (emotionale Erstarrung) geht gar nichts mehr. Das Kind ist nicht ansprechbar, nichts kommt mehr an, es erstarrt innerlich. Beim Autismus-Spektrum wird dieser Zustand auch Shutdown genannt.

In der Schule gibt es für Autistinnen oft nur wenige Möglichkeiten, sich vor Reizen zu schützen und sich zu erholen. Der Gang auf die Toilette nach der Schulpause kann dabei eine hilfreiche Rückzugsmöglichkeit sein.
Die drei beschriebenen Reaktionen – Fight, Flight und Freeze – versuchen Mädchen im Autismus-Spektrum häufig zu vermeiden. Sie maskieren (tarnen) meist die aktuelle Überreizung des Nervensystems und ihr Anderssein, indem sie bewusst oder unbewusst versuchen, wie die anderen zu wirken.
Dieses Masking kostet zusätzliche Energieressourcen und kann zu Hypervigilanz (erhöhter Wachsamkeit) führen. Die fortlaufenden Anpassungs- und Regulationsversuche im Umgang mit dem chronischen Overload des vegetativen Nervensystems – mit dem Ziel, allen zu gefallen, freundlich zu sein und angepasst zu wirken – werden auch Fawn-Reaktionen genannt.
Diese Fawn-Reaktionen und das energieraubende Masking führen jedoch meist früher oder später zu psychischen Komorbiditäten – wie etwa Depressionen, Angststörungen, Borderline-Störungen, Essstörungen oder Schlafproblemen.
Wie ein inklusives Klassenzimmer nicht nur Autistinnen unterstützen kann
Was kannst du also als Lehrperson oder Elternteil tun, damit sich Jugendliche wie Ella im Autismus-Spektrum in der Schule wohler fühlen? Damit ihre – meist intensivere – Reizverarbeitung nicht noch mehr Energie kostet und nicht bis zum Overload, Meltdown oder Shutdown führt?
Ein inklusiveres und damit lernförderlicheres Klassenzimmer basiert im Wesentlichen auf drei Ansätzen:
Vermehrte Rückzugsmöglichkeiten
Zum einen sind vermehrte Rückzugsmöglichkeiten und Ruheoasen von grosser Bedeutung. Dies kann ein speziell eingerichteter Bereich im Klassenzimmer sein, der über folgende Hilfsmittel und Elemente verfügt:
- gedämmtes Licht, Sonnenbrillen
- Geruchsneutralität
- Noice cancelling Kopfhörer
- bequeme Sitzkissen, Balancekissen
- Gewichtsdecken
- Diverse Fidget-Toys
- Lammfelle
- Augenklappen ….
Es empfiehlt sich, die Ruheoase gemeinsam mit allen Lernenden einzurichten – sie wissen am besten, was sie an einem solchen Rückzugsort wirklich brauchen. Dieser kann ganz einfach durch ein kleines Büchergestell im Klassenraum abgetrennt werden, denn nicht immer steht ein zusätzlicher, ruhiger Gruppenraum zur Verfügung. Auch sogenannte Lernwaben sind bei vielen Kindern sehr beliebt und fördern die Reizregulation.
Autoregulationsmassnahmen
Ein weiterer wichtiger Ansatz sind Autoregulationsstrategien, die es Lernenden ermöglichen, eine Überlastung des vegetativen Nervensystems möglichst frühzeitig wahrzunehmen und durch individuelle „Ventile“ zu entlasten.
Häufig zeigt sich eine solche Reizüberflutung bei Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum durch sogenannte Stimming-Massnahmen (selbststimulierendes Verhalten) – zum Beispiel durch Wippen, Zappeln, Schaukeln, Kritzeln, das Eindrehen der Haare, das Tragen einer Kopfbedeckung, das wiederholte Öffnen und Schliessen eines Kugelschreibers oder – wie bei Ella – durch das Massieren des Daumenballens mit einem Stift.
Wird das Stimming als Form der Selbstregulation unterdrückt oder verboten, gerät das vegetative Nervensystem noch mehr überreizt – und eine anschliessende Fight-, Flight-, Freeze- oder auch Fawn-Reaktion wird wahrscheinlicher.
Dies geschieht immer auch zu Lasten des betroffenen Lernenden, der Lehrperson und des gesamten Klassenverbandes – insbesondere im Falle einer Fight-Reaktion.
Warum also nicht präventiv ansetzen? Warum nicht Lernende bei beobachtetem Stimming behutsam fragen, ob sie gerade etwas Erholung an einem ruhigeren, reizärmeren Ort brauchen?
Ella könnte man zum Beispiel so ansprechen:
«Hey Ella, ich nehme gerade wahr, dass du etwas unruhig bist und deine Daumenballen massierst. Was brauchst du im Moment?»
Gerade Lernende im Autismus-Spektrum können in solchen Situationen oft erstaunlich konkrete, selbstwirksame und individuelle Bedürfnisse benennen, wie zum Beispiel:
- eine Runde um das Schulhaus rennen dürfen
- auf die Toilette gehen dürfen
- sich in der eingerichteten Ruheoase-Ecke mit Noise-Cancelling-Kopfhörern Walgesang anhören
- mit dem Fidget-Toy spielen und für ein paar Minuten in der Lernwabe die Augen schliessen
- eine schulische Aufgabe in Ruhe alleine im Gruppenraum lösen
- die Wandtafel putzen
Hier gilt es, die individuellen Bedürfnisse der Lernenden mit Neugier zu erkunden und sie im passenden Moment anzubieten.
Stärkung der Autonomie mit flexibleren Lernsettings
Und genau hier setzt aus meiner Sicht die wichtigste Massnahme der Neuroinklusion an: die Stärkung des Autonomiebedürfnisses von Lernenden im Autismus-Spektrum – ein Bedürfnis, das auch für Jugendliche in der Pubertät generell von grosser Bedeutung ist, das Lernen effektiver macht und den Konsens fördert.
Autonomie kann zudem helfen, Stress zu reduzieren. Mitbestimmen oder auswählen zu dürfen, wie Jugendliche ihr Lernsetting gestalten, wirkt unterstützend und ist sowohl in der Schule als auch zu Hause beziehungsfördernd.
Für Autistinnen wie Ella bedeuten Schulpausen keine Erholung – obwohl gerade sie nach der Reizüberflutung im Klassenzimmer dringend Ruhe bräuchten.
Der Gang auf die Toilette, kurz nach der lauten, wilden Pause, ist eine selbstregulierende Massnahme, um herunterfahren zu können und Energie für die nächste Lektion zu tanken. Ohne kichernde Kolleginnen allein auf dem WC zu sein, kann sehr beruhigend sein. Dann kann Ella auch ihre Lieblingsmelodie summen, ohne dass sich jemand über sie lustig macht. Summen ist eine Form der Autoregulation, welche das vegetative Nervensystem beruhigt und Ängste reduziert.
Flexible Unterrichtsgestaltung – weil nicht alle gleich lernen
Ella hat keinerlei Mühe damit, eine kurze Unterrichtseinheit im Klassenzimmer zu verpassen. Auch stört sie es nicht, wenn sie nach dem Toilettengang kurz nach der Pause wieder in den Unterricht zurückkehrt. Im Gegenteil: Danach ist sie oft deutlich aufmerksamer, kann dem Unterricht besser folgen und braucht ihren Stift nicht mehr, um die Handballen zu massieren. Den verpassten Stoff arbeitet sie im Nu selbstständig nach.
Autodidaktisches Lernen zählt zu den vielen Stärken von AutistInnen und wird dem kollektiven Lernen häufig vorgezogen.
Das Stärken der Autonomie kann auch bedeuten, Lernende gezielt zu fragen, wie sie eine Aufgabe lösen möchten – zum Beispiel, indem man ihnen zwei bis drei Methoden zur Auswahl anbietet.
Gruppenarbeiten sind für viele Lernende im Autismus-Spektrum ein zusätzlicher Energiefresser. Einzelarbeit wird dabei nicht primär deshalb bevorzugt, weil man nicht mit anderen zusammenarbeiten will, sondern vielmehr als Akt der Selbstfürsorge. Gerade autistische Lernende wissen oft sehr genau, dass Gruppenarbeiten sie übermässig viel Energie kosten.
Es sollte nicht als Ablehnung von Autorität verstanden werden, wenn ein neurodivergentes Kind wie Ella eine Aktivität verweigert. In den meisten Fällen ist diese Entscheidung ein intuitiver Akt des Selbstschutzes, um eine drohende Überreizung zu vermeiden.
Es ist daher ratsam, Lernenden ihre Stimming-Hilfsmittel nicht wegzunehmen oder das Stimming zu unterdrücken, sondern stattdessen nachzufragen, was das Kind in diesem Moment braucht.
So lassen sich für den Klassenverband und die Lehrperson belastende und zeitraubende Fight- oder Flight-Reaktionen während des Unterrichts vermeiden – zum Beispiel unruhiges, lautes Verhalten, das Stören anderer Kinder, Clownereien, fluchtartiges Verlassen des Klassenzimmers oder aber verstärkte Anpassung, wie sie Ella zeigt.
Letztere Form der Anpassung entlädt sich oft später zu Hause – in Form einer Fight-Reaktion gegenüber den Erziehungsberechtigten. Diese kann für das Umfeld überfordernd und schwer nachvollziehbar sein.
Im Team für das Kind – wenn Schule, Therapie und Eltern Hand in Hand arbeiten
Es sind oft ganz kleine Anpassungen, die es neurodivergenten Lernenden wie Ella erlauben, in der Schule weniger Stress zu erfahren und damit keine Overloads, Meltdowns oder sogar Shutdowns auszulösen.
Die Schule soll für alle ein Ort des Gesehenwerdens, der Wertschätzung und der Flexibilität sein – ohne dabei gemeinsame Ziele, Regeln und Verhaltensweisen aus den Augen zu verlieren.
Diese Anpassungen sind es meines Erachtens wert – helfen sie doch neurodivergenten Kindern wie Ella, nicht in eine Depression zu fallen oder irgendwann die Schule ganz zu verweigern, weil sie so erschöpft und ausgelaugt von der chronischen Reizüberflutung sind.
Es empfiehlt sich, dass die Lehrperson bei wahrgenommenen Auffälligkeiten im ersten Schritt das Gespräch gemeinsam mit dem Kind und den Eltern sucht.
In diesem Gespräch gilt es, das Kind wertschätzend abzuholen und nachzufragen, was es konkret braucht, um nicht so erschöpft, reizüberflutet oder auch aggressiv zu sein. Wenn sich Jugendliche gesehen und ernst genommen fühlen, öffnen sie sich meist auch in Bezug auf mögliche Unterstützungsangebote – sowohl in der Schule als auch im Alltag zu Hause.
Wichtig ist dabei auch, dass Eltern die Eigenheiten und Bedürfnisse ihres Kindes respektieren und nicht davon ausgehen, dass alle Geschwister mit einem gleich regulierten vegetativen Nervensystem aus der Schule nach Hause kommen.
Für Ella ist es entscheidend, nach dem Unterricht Freiraum und Ruhe zu haben – ohne schlechtes Gewissen und ohne getadelt zu werden, nur weil sie sich sofort zurückzieht.
Hausaufgaben sind ein besonders sensibles und konfliktbehaftetes Thema. Viele neurodivergente Kinder sind nach dem Schultag nicht in der Lage, nochmals etwas für die Schule zu leisten. Sie brauchen zuerst Abstand, Ruhe und Erholung.
Sie sollen sich zunächst etwas Gutes tun dürfen. Als Erziehungsberechtigte gilt es gemeinsam mit dem Kind herauszufinden, wann das Erledigen der Hausaufgaben möglich und sinnvoll ist. Dabei ist es wichtig, auf Vergleiche mit Geschwistern zu verzichten – denn jedes Kind hat ein individuell belastbares Nervensystem.
Für manche AutistInnen kann das zum Beispiel bedeuten, dass sie erst am frühen Morgen vor der Schule genügend ausgeruht sind, um ihre Hausaufgaben konzentriert zu erledigen.
Ein bunter Schirm für jedes Kind – Nachteilsausgleich im interdisziplinären Team
Manchmal ist es notwendig, zusätzliche Fachpersonen wie schulische HeilpädagogInnen, Schulsozialarbeitende, SchulpsychologInnen oder Schulleitende zu einem schulischen Standortgespräch hinzuzuziehen.
Je nach Art der Herausforderungen im Schulkontext kann es erforderlich sein, für Lern- und Prüfungssituationen einen expliziten Nachteilsausgleich zu definieren. Dabei geht es nicht immer nur darum, mehr Zeit oder einen ruhigeren Raum für das Lösen einer Prüfung zur Verfügung gestellt zu bekommen.
Ein wirksamer Nachteilsausgleich muss multiperspektivisch und interdisziplinär gedacht und auf alle Schulfächer abgestimmt sein.
Eine Autismus-Diagnose allein begründet noch keinen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich. Es muss eine konkrete Notwendigkeit bestehen, die gemeinsam mit Fachpersonen beschrieben und evaluiert wird.
Auch hier lassen sich keine allgemeingültigen Empfehlungen aussprechen – es braucht die individuelle Betrachtung. Jedes neurodivergente Kind benötigt demzufolge seinen eigenen, farbigen Schirm, damit niemand im Regen stehen gelassen wird – weder das Kind, noch die Lehrperson, noch die Eltern.
Autodidaktisches Lernen – ein Weg aus dem Overload
Viele AutistInnen lernen gerne autodidaktisch, weil sie einerseits häufig über andere, für sie effizientere Lernverarbeitungsmechanismen verfügen und andererseits die Reizüberflutung des kollektiven Lernens wegfällt. Dies erklärt, warum einzelne SchülerInnen im Autismus-Spektrum während der Coronazeit regelrecht aufblühten – das Online-Lernen mit vielen autodidaktischen Elementen kam ihnen sehr entgegen. Gerade in der Sekundarschule, die auch auf das Erwachsenenleben vorbereitet, kann damit viel mehr Selbstverantwortung den Lernenden abgegeben werden.
Ella kann zum Beispiel davon profitieren, wenn sie vier Lektionen pro Woche autodidaktisch zu Hause lernen darf, indem sie sich in ihrem eigenen Tempo und mit methodischer Freiheit vertieft mit einem Unterrichtsthema auseinandersetzt. Dies könnte diesen Kräfte raubenden Overload und entsprechend ungesunde Kompensationsmöglichkeiten vermeiden, welcher langfristig eben auch schwere psychische und physische Komorbiditäten bis zum Schulabsentismus zur Folge haben kann.
Blick in die Zukunft – wie echte Neuroinklusion gelingen kann
Eine inklusive Schule braucht als ersten Schritt die Haltung, dass neurodivergente Lernende – wie AutistInnen – genau so ok sind, wie sie sind. Und dass sie gewisse Anweisungen von Lehrpersonen oder Erziehungsberechtigten nicht aus Absicht verweigern, ausrasten, die Klasse stören oder – wie Ella – noch stiller werden, sondern aus Not heraus handeln. Neurodivergente Kinder wollen gesehen werden und wünschen sich nichts mehr als Wertschätzung, Zugehörigkeitsgefühl und Vertrauen. Sie verfügen über zahlreiche individuelle Stärken und Potenziale, werden häufig aber nur auf ihre Schwächen limitiert.
Gelingt es Lehrpersonen und Erziehungsberechtigten, eine wohlwollende und respektvolle Haltung einzunehmen – mit Fokus auf die individuellen Potenziale und Ressourcen der Kinder –, so fördern sie damit sowohl eine autonomere Beziehungsgestaltung als auch die Autoregulation des vegetativen Nervensystems.
Wenn Quallen zum Lernmotor werden – das Potenzial von Spezialinteressen
Gerade bei AutistInnen eignen sich ihre häufig vorhandenen Spezialinteressen dazu, ihre Stärken wertzuschätzen und ihre Potenziale zu fördern. Dies hat auch einen positiven Einfluss auf das wichtige Selbstwertgefühl für Jugendliche in der Pubertät. Ella würde es leichter fallen, vor der Klasse zu stehen und über ihre Lieblingstiere Quallen zu berichten, da blüht sie richtig auf und verfügt über Kenntnisse, die manchen Erwachsenen fehlen.
AutistInnen können oft auftanken, wenn sie sich mit ihren Interessen beschäftigen oder darüber berichten dürfen.
Wenn Anderssein in Ordnung ist, lernen Kinder wie Ella früh, sich selbst zu regulieren – und müssen sich nicht ständig anpassen.
Ihr Autismus-Spektrum ist angeboren und lässt sich nicht wegtherapieren. Aber das schulische Umfeld sowie der Alltag zu Hause können optimiert werden. Zum einen durch das Schaffen jederzeit verfügbarer Ruheoasen und Rückzugsmöglichkeiten, das Zulassen von Stimmingmassnahmen, autonomen Lernbedingungen sowie eine transparente und frühzeitige Kommunikation von Änderungen. So kann das Nervensystem ausgeglichener sein – seine Filter sind und bleiben einfach anders sensitiv.
Verstehen statt urteilen – durch Sensibilisierung und individuelles Coaching
Um eine wohlwollende Haltung mit positiver Neugier gegenüber neurodivergenten Kindern zu erlangen, braucht es sicher noch mehr Sensibilisierungsmassnahmen und Unterstützung von Lehrpersonen und Erziehungsberechtigten. Denn die Neurodivergenz beeinflusst das Verhalten von einzelnen Kindern und damit eben auch den des ganzen Klassenverbundes. Lehrpersonen – und vor allem auch Erziehungsberechtigte – müssen in der Lage sein, co-regulierend zu handeln. Das gelingt jedoch nur, wenn sie selbst reguliert sind und sich ihrer eigenen Überreaktionen – etwa auf Störungen im Klassenzimmer oder zu Hause – bewusst sind.
Neurodiversität – also die neurologische Vielfalt jedes Gehirns – sollte bereits in der pädagogischen Ausbildung einen festen Stellenwert haben. Nur so können Lehrpersonen proaktiv und angemessen auf die Herausforderungen im Klassenzimmer reagieren, die sich im Zusammenspiel von neurodivergenten und neurotypischen Lernenden ergeben – zum Schutz der gesamten Klasse und der Lehrpersonen.
Die Neuroinklusion trägt dazu bei, psychische Komorbiditäten bei neurodivergenten Lernenden zu verhindern, Schulabsentismus vorzubeugen, die Resilienz von Lehrpersonen zu stärken und ihre Freude am Unterrichten zu erhalten. Davon profitieren auch neurotypische Kinder.
Auch neurotypischen Kindern sollten technische Hilfsmittel zur Reizregulation sowie Ruheoasen offenstehen – denn auch ihr vegetatives Nervensystem kann zeitweise überlastet sein. Gleichzeitig sinkt dadurch die Hemmschwelle für neurodivergente Lernende wie Ella, etwa Fidget-Toys zu nutzen oder den Ruheraum aufzusuchen. Viele von ihnen möchten nämlich nicht auffallen oder anders behandelt werden.
Neurodivergenz in der Schule braucht Raum – auch in der Politik
Der aktuelle Lektionenfaktor für Lehrpersonen – also die Anzahl Wochenlektionen im Tätigkeitsbereich Unterricht, die als Arbeitszeit angerechnet werden – ist stark ausgereizt. Gründe dafür sind die zunehmende Heterogenität in den Klassen, die Anforderungen durch die Digitalisierung sowie der anhaltende Fachkräftemangel.
Gerade deshalb braucht es auf politischer Ebene mehr Aufmerksamkeit für Neurodivergenz im Klassenzimmer. Neben Sensibilisierungsmassnahmen, Supervisionen und Beratungsangeboten müssen vor allem auch zusätzliche Zeitressourcen für individuellen und flexiblen Unterricht geschaffen werden.
Zudem darf nicht übersehen werden, dass auch viele Lehrpersonen selbst neurodivergent sind. Sie benötigen im Rahmen einer neuroinklusiven Arbeitskultur unter anderem mehr Ruhepausen, flexible Arbeitsgestaltung und Möglichkeiten zur Autoregulation.
Ein herzliches Dankeschön
Abschliessend möchte ich ein herzliches Dankeschön an alle Lehrpersonen aussprechen, welche in diesen herausfordernden Zeiten tagtäglich vor eine Klasse stehen und Jugendliche im Erwachsenwerden sowie in ihrer späteren beruflichen Laufbahn individuell unterstützen.

Simone Tuena-Küpfer
Simone Tuena-Küpfer ist angewandte Gesundheitswissenschaftlerin, Dozentin, Lehrperson, spätdiagnostizierte Autistin und Mutter von zwei Teenagern.
Quellen:
Dorothea Whitehead: Subtiler weiblicher Autismus. Wegweiser für Mädchen und Frauen.
Dr. Christine Preissmann: Überraschend anders. Mädchen und Frauen mit Asperger.
Maria Zimmermann: Anders nicht falsch.
Autismus Schweiz

